Wie funktioniert Lesen?


 
von Christine Tettenhammer

 
Lesen in der Fremdsprache Das Lernen einer fremden Sprache setzt voraus, dass man diese Sprache „lesen“ kann. Sprachen, die in fremden Schriften geschrieben werden, können wir nicht lesen. Um die Sprache überhaupt lernen zu können, müssen wir in diesem Fall erst die Schrift lesen lernen.
 
Das nun folgende Beispielwort kennen Sie bestimmt auf Deutsch – aber hätten Sie es in der kyrillischen Schrift erkannt?: ландшафт
Wenn Sie nicht gelernt haben, die kyrillische Schrift zu lesen, dann können Sie nicht wissen, dass hier das Wort „Landschaft“ geschrieben steht.
 
Aber selbst wenn wir damit beginnen eine Fremdsprache zu lernen, die in lateinischen Buchstaben geschrieben wird, müssen wir dennoch das Lesen teilweise neu lernen, denn nicht jeder Buchstabe wird so gesprochen, wie wir das aus unserer Muttersprache gewohnt sind.
 
Haben Sie zum Beispiel gerade angefangen, Niederländisch zu lernen? Mussten Sie nicht auch erst mal beim Lesen umdenken? Sie mussten sich bestimmt erst einmal merken, dass bestimmte Buchstaben und Buchstabenkombinationen im Niederländischen ganz anders gesprochen werden. Das „g“ wird im Niederländischen beispielsweise als [ch]-Laut ausgesprochen. Die Buchstabenkombination „oe“ wird als [u] artikuliert. Und so spricht man das Wörtchen goed (dt. gut) als [chud] aus.
 
Das Lernen einer Sprache ist also immer eng verknüpft mit dem Lesen einer Sprache. Diese Aussage bringt uns zu der interessanten Fragestellung:
 

Wie funktioniert Lesen? - Lesen als Verstehensprozess im Gehirn

Lesen als Verstehensprozess Lesen ist ein mehrstufiger Prozess, der sehr schnell in unserem Gehirn abläuft.
 
Die erste Leistung, die das menschliche Gehirn beim Lesen eines Wortes erbringt, ist das rein visuelle Erkennen. Entweder wird dabei ein einzelner Buchstabe erkannt oder eine einzelne Einheit der Zeichen einer Schrift (denken Sie in diesem Fall an chinesische Schriftzeichen) erfasst.
 
Der nächste Schritt, den unser Gehirn nun unternimmt, ist ein „stilles Hören“. Dem einzelnen Buchstaben oder Schriftzeichen wird ein Lautwert der gesprochenen Sprache zugeordnet.
 
So verfährt unser Gehirn mit allen zusammengehörigen Buchstaben und Schriftzeichen, die gemeinsam das Wort bilden. Nun wird das Wort als Ganzes „gelesen“: Es wird als Wort erkannt und man erinnert sich an seine Bedeutung. Wenn man gerade dabei ist eine Fremdsprache zu lernen, sucht das Gehirn nun nach der Bedeutung dieses Wortes – es übersetzt also das Wort in die Muttersprache des Lerners.
 
Diese drei Schritte laufen sehr, sehr schnell ab (innerhalb von Bruchteilen von Sekunden), bei jeder Person, die ein Wort liest.
 
Es werden in diesem Prozess also immer kleinere Einheiten zu größeren, sinntragenden Einheiten zusammengefasst.
 

Lesen als Verstehensprozess auf der Ebene ganzer Texte

Lesen als Verstehensprozess Wie aber funktioniert das Lesen von ganzen Sätzen und längeren Texten?
 
Wenn sich das Gehirn mit Sätzen und Absätzen – also einem längeren Text – befasst, passiert Folgendes: Nach der Analyse der einzelnen Worte, wird der ganze Satz gelesen. Das Gehirn des Lesers erkennt nun den Zusammenhang der Wörter und Wortgruppen.
 
Blitzschnell analysiert es, in welchem Verhältnis die Wörter zueinander stehen: Was ist das Subjekt des Satzes? Wo finde ich das Verb? In welcher Zeitform steht das Verb – in der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart ...
 
Wenn die einzelnen Sätze erkannt und gelesen wurden, beschäftigt sich unser Gehirn mit ganzen Abschnitten bzw. semantischen Einheiten. Es versucht Zusammenhänge in der Handlung, dem beschriebenen Geschehen, den geschilderten Fakten auszumachen. Darüber hinaus geht es auch um die Frage, was Ursachen und Folgen der erhaltenen Information im Text sein könnten.
 
Im letzten Schritt stellt sich das Gehirn nochmals der ganz grundlegenden Frage:
 
Worum geht es in diesem Text eigentlich?
 

Wie schnell funktioniert das Lesen?

Lesen verstehen Dieser Verstehensprozess läuft also – wie bereits geschildert – in Sekundenschnelle in unserem Gehirn ab.
 
Dabei durchlaufen nur Kinder, die das Lesen gerade lernen, die oben beschriebenen Prozesse Schritt für Schritt und arbeiten sich Buchstabe für Buchstabe durch ein Wort. Wer schon Erfahrungen beim Lesen hat (und eine ausreichend große Anzahl an Wörtern und ihre Bedeutung kennt), fixiert das zu lesende Wort oder den zu lesenden Text und erkennt mehrere Buchstaben, ja sogar mehrere Wörter auf einmal.
 
Mit dieser Technik des Fixierens mehrerer Wörter auf einmal, kann ein durchschnittlicher deutscher Leser zwischen 150 und 200 Wörter in der Minute erkennen, lesen und verstehen. Je geübter und erfahrener ein Leser ist, desto schneller wird er beim Lesen. Es gibt auch unterschiedliche Techniken, wie man das schnelle Lesen trainieren und verbessern kann. Hierzu erfahren Sie später mehr in einem weiteren Artikel dieser Serie.
 
In unserem folgenden Artikel werden wir Ihnen vorstellen, welche Faktoren einen Einfluss auf das Lesen in der Muttersprache im Allgemeinen und in einer Fremdsprache im Besonderen haben.
 
Wir beschließen diesen Artikel mit einer subjektiven Sammlung interessanter Zitate, die berühmte Autoren und Philosophen zum Thema „Lesen“ gemacht haben.
 

Zitate zum Thema Lesen

  • Lesen heißt mit einem fremden Kopfe, statt des eigenen, denken.
    Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph, 1788 bis 1860
  • Ich reise niemals ohne mein Tagebuch. Man sollte immer etwas Aufregendes zu lesen dabei haben.
    Oscar (Fingal O' Flahertie Wills) Wilde, irischer Schriftsteller, 1854 bis1900
  • Es ist mit dem Lesen wie mit jedem anderen Genusse: Er wird stets desto tiefer und nachhaltiger sein, je inniger und liebevoller wir uns ihm hingeben.
    Hermann Hesse, schweizerischer Schriftsteller, 1877 bis 1962
  • Lesen ist schrecklich!
    Arno Schmidt, deutscher Schriftsteller, 1914 bis 1979

 

 
 

Über die Autorin

Christine Tettenhammer ist Chefredakteurin bei Sprachenlernen24.
 
Zusammen mit ihrem Redaktionsteam verantwortet sie den Sprachenlernen24-Blog, betreut die redaktionelle Erarbeitung der Grammatiken und entwickelt neue Softwarekonzepte.
 
Christine Tettenhammer Christine hat von 1999 bis 2004 Kommunikationswissenschaft, Amerikanistik und Neuere Deutsche Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München studiert.
Sie ist ausgebildete Sprecherin und leiht all unseren Deutschaufnahmen ihre Stimme.
In ihrer Freizeit findet man Christine auf Münchens ältester, noch spielender Laienbühne.
 
Sie spricht Englisch, Bairisch, Portugiesisch und Spanisch – verfügt außerdem über erweiterte Grundkenntnisse in Französisch, Kroatisch und Chinesisch.
 
Wenn Christine ins Kino geht, schaut sie sich Filme am liebsten im Original an.
Ihre Liebe zu Büchern in der Originalsprache bekommen auch ihre Bücherregale zu spüren, deren Regalbretter nicht nur an deutschen Autoren schwer zu tragen haben, sondern auch reich befüllt sind mit Werken von Burrhus Frederic Skinner, Philip Roth, Jonathan Safran Foer, Fernando Pessoa, Jorge Amado und vielen anderen.

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